Die kranke Rechnung
Die Berechnung der Ärztezahlen geht seit Jahren an der Realität vorbei: Die Analyse von BR Data zeigt, warum Landstriche auf dem Papier überversorgt sind, in Wahrheit aber Ärztemangel herrscht.
– von Christian Orth, Robert Schöffel und Steffen Kühne
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Planung und Realität
Gibt es einen Ärztemangel in Deutschland? Das kommt auf die Perspektive an. Einerseits beschweren sich viele Patienten über Schwierigkeiten bei der Arztsuche oder lange Wartezeiten auf freie Termine. Auf dem Papier ist hingegen kein Engpass zu erkennen, theoretisch gibt es sogar zu viele Ärzte. Zumindest, wenn es nach den Zahlen der Kassenärztlichen Vereinigung (KBV) geht. Nach diesen Zahlen werden in Deutschland die Arztsitze geplant. Vor allem Fachärzte, wozu beispielsweise Augenärzte, Orthopäden, Frauenärzte und Kinderärzte zählen, sind demnach im Überfluss vorhanden.
Fälle von Überversorgung mit Fachärzten
In Deutschland gibt es 385 räumliche Planungsbereiche und zehn Facharztgruppen. In fast allen der 3856 Fälle wird die vorgesehene Ärztezahl überschritten.
Gesperrte Regionen
Um die Zahl der Kassenärzte nicht ungebremst ansteigen zu lassen, werden Planungsbereiche ab einem Versorgungsgrad von 110 % gesperrt. In der Regel dürfen sich dort keine neuen Ärzte mehr niederlassen. Das Problem aber ist: Der offizielle Versorgungsgrad aus der Bedarfsplanung bildet nicht die Realität ab. Deshalb werden manchmal trotz eines Versorgungs-Engpasses keinen neuen Ärzte zugelassen. Die Folgen für Patienten können wochenlange Wartezeiten auf einen Arzttermin sein.
Anteil der Patienten, die über drei Wochen auf einen Termin warten müssen
Gesetzlich versichert Privat versichert
Lange Wartezeiten bei Haus- oder Fachärzten nehmen bei Kassen- und Privatpatienten zu.
Gegen die Ärzteschwemme
Warum geht die Bedarfsplanung an der Realität vorbei? Ein Sprung ins Jahr 1993: Nach der Wende befürchten Politiker eine Ärzteschwemme, deshalb wird beschlossen, die Ärztezahlen zu deckeln. Das Gesundheitsministerium beschreibt diesen Schritt heute so:
„Zu einem bestimmten Stichtag (für die alten Bundesländer der 31.12.1990) wurde das Verhältnis zwischen Einwohner- und Arztzahl ermittelt. Die so ermittelte Verhältniszahl galt als Richtwert für die Beurteilung der jeweiligen aktuellen Versorgungslage.“
Der Fehler im System
Bis heute fließt das Arzt-Einwohner-Verhältnis aus den Neunziger Jahren in die Ärzteplanung ein. Ein echter Versorgungsbedarf war schon damals nicht bekannt und Wissenschaftler stellen in Frage, ob die Zahlen heute noch dazu geeignet sind, den Bedarf abzubilden. BR Data liegt ein noch unveröffentlichtes Gutachten vor, das vom Gemeinsamen Bundesausschuss in Auftrag gegeben wurde – dem Gremium, in dem Vertreter von Krankenkassen und Ärzten Eckpunkte der Versorgung festlegen. In diesem Gutachten treten die Wissenschaftler dafür ein, die Verhältniszahlen an neuere Erkenntnisse anzupassen.
Engpass bei Kinderärzten
Das alte Arzt-Einwohner-Verhältnis wird inzwischen immer mehr zum Problem, wie an den Kinderärzten deutlich wird. Immer wieder gibt es Berichte über Probleme bei der Versorgung der Kleinsten, in manchen Städten nehmen Arztpraxen wegen Überlastung schon gar keine Kinder mehr auf. Selbst für Eltern von Neugeborenen kann die Suche nach einem Arzt zum Problem werden. Doch auf dem Papier ist fast ganz Deutschland mit Kinderärzten überversorgt.
Fälle von Überversorgung mit Kinderärzten
Bei Kinderärzten sind 97 Prozent der Planungsbereiche überversorgt.
Kinderärzte müssen mehr leisten
Die Realität in den Praxen stellt die alten Arzt-Einwohner-Verhältnisse allerdings in Frage, denn Kinderärzte müssen deutlich mehr Leistungen als früher erbringen. Mehr Vorsorgeuntersuchungen, mehr Impfungen – der Kinderärzteverband berichtet von einer Verdopplung seit Einführung der Bedarfsplanung. Unter dem Strich bedeutet das deutlich mehr Aufwand für jeden Arzt pro Kind – aber nicht mehr Ärzte, um die Mehrarbeit aufzufangen.
Angestellte Ärzte arbeiten weniger
Hinzu kommt, dass Ärzte immer öfter darauf verzichten, sich selbständig zu machen und sich stattdessen anstellen lassen. Der Anteil der angestellten Ärzten ist seit 2008 von sechs auf 19 Prozent gestiegen. Problematisch ist, dass angestellte Ärzte deutlich weniger arbeiten als selbstständige Praxisinhaber, aber bereits ab 30 Arbeitsstunden pro Woche als volle Stelle in die Statistik eingehen. Auch hier geht Behandlungskapazität verloren, ohne dass dies bislang aufgefangen wird.
Lange Wartezeiten bis zur Therapie
Bei Psychotherapeuten ist die Ausgangslage ebenfalls eine andere als in den Neunziger Jahren. Laut AOK sind die Fehlzeiten durch psychische Erkrankungen alleine in den letzten zehn Jahren um 79 % gestiegen. Eine Studie der Psychotherapeutenkammer ergab, dass Patienten im Schnitt fünf Monate auf den Beginn einer Psychotherapie warten müssen. Neue Therapeuten werden allerdings meist nicht zugelassen, da es auf dem Papier schon zu viele gibt.
Fälle von Überversorgung mit Psychotherapeuten
Bei Psychotherapeuten sind 82 Prozent der Planungsbereiche überversorgt.
Zeit für ein Update
Patientenvertreter und Ärzteverbände fordern schon seit Jahren eine grundlegende Überarbeitung der Verhältniszahlen. Was die Neubestimmung des Ärztebedarfs für Folgen haben könnte, zeigt eine Studie des IGES-Instituts: Bei einer Neuberechnung des Psychotherapeuten-Bedarfs mit neueren Daten würde die derzeitige Überversorgung zu einem großen Teil verschwinden. Die Folge: In vielen, momentan gesperrten Planungsbereichen dürften sich wieder Psychotherapeuten niederlassen.
Neuberechnung des Bedarfs an Psychotherapeuten
bestehende Planung Neuberechnung IGES
Nach Berechnung des IGES-Instituts wären 149 zusätzliche Planungsbereiche wieder offen für Niederlassungen.
Bedarfsplanung auf dem Prüfstand
Dass die Verhältniszahlen aus den Neunziger Jahren nicht mehr zeitgemäß sind, hat längst auch das Gesundheitsministerium erkannt. Auf BR-Anfrage verweist das Ministerium darauf, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) für die Überarbeitung der Richtlinie zuständig sei. Dieses Gremium sei damit beauftragt worden, eine Anpassung der Verhältniszahlen und die Möglichkeit einer kleinräumigeren Planung zu prüfen. Die Entscheidungen treffe der G-BA in eigener Verantwortung.
Krankenkassen bremsen
Schon 2019 soll eine neue Richtlinie in Kraft treten. Ob die Verhältniszahlen von Grund auf neu berechnet werden, ist aber offen. Denn im G-BA haben die Krankenkassen ein Wort mitzureden. Diese sind zwar offen für eine andere Verteilung, wollen aber an den alten Arzt-Einwohner-Verhältnissen festhalten. Auf unsere Anfrage antwortet der Krankenkassen-Spitzenverband GKV:
„Der Zulassungsausschuss passt die Zulassungszahlen jährlich bezogen auf die Bevölkerungsdichte an. Somit kann nicht die Rede davon sein, dass die Bedarfsplanung veraltet ist, weil das System 1992 eingeführt wurde.“
Methodik
Fachärzte sind für uns die zehn Arztgruppen der Allgemeinem Fachärztlichen Versorgung nach Definition des G-BA. Für die Ermittlung der Versorgungsgrade haben wir die Gesundheitsdaten der KBV ausgewertet. Die Analyse der Patienten-Wartezeiten stammt aus der Patientenumfrage der KBV. Die alternative Berechnung des Bedarfs an Psychotherapeuten wurde uns vom IGES-Institut zur Verfügung gestellt.
Alle Daten zum Herunterladen als CSV-Tabellen:
Versorgungsgrad (KBV), 2017
Wartezeiten (KBV), 2017
Psychotherapeuten (IGES), 2016
Sendungen
Mehr zum Thema Bedarfsplanung erfahren Sie im Radio und auf unserer Nachrichtenseite BR24. Die Sendetermine erfahren Sie auf der jeweiligen Sendungsseite.
B5 aktuell: Der Funkstreifzug
Bayern 2: Notizbuch
BR24: Verteilung von Kinderärzten
Über das Projekt
„Die kranke Rechnung“ ist ein Projekt von BR Data. Wenn Sie Fragen oder Anregungen haben, können Sie uns über die auf unserer Kontaktseite angegebenen Wege kontaktieren.
Veröffentlicht am 18.06.2018
Redaktion: Ulrike Köppen
Autoren: Christian Orth, Robert Schöffel und Steffen Kühne
Icons: Bernar Novalyi, Wilson Joseph (Noun Project)