Angriff auf die Demokratie
Demolierte Büros, gelockerte Radmuttern, Morddrohungen – Politiker zu sein, kann gefährlich werden. Unsere Analyse zeigt: Alle großen Parteien werden angefeindet und der Osten Deutschlands ist besonders stark betroffen.
– von Manuel Mohr, Niels Ringler, Robert Schöffel (BR Data)
Die Gewalt gegen Politiker in Deutschland hat eine bedenkliche Dimension erreicht. Das Attentat auf Henriette Reker im Oktober 2015 ist der wohl drastischste Vorfall der jüngeren Vergangenheit, aber alles andere als eine Ausnahme. Die Fälle häuften sich derart, dass das Bundeskriminalamt (BKA) Angriffe gegen Politiker seit Anfang 2016 gesondert erfasst. Erste Zahlen zeigen, dass Amts- und Mandatsträger, wozu beispielsweise Bundespolitiker, Mitglieder der Landesregierungen und Kommunalpolitiker gehören, im vergangenen Jahr 755 Mal Opfer von rechts-motivierten Übergriffen wurden. Hinzu kommen die links-motivierten und nicht zugeordneten Straftaten - diese Zahlen wurden vom BKA noch nicht herausgegeben - sowie die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Vorfälle.
Ausschnitt aus der TV-Dokumentation „Mit Hass und Gewalt – Angriff auf die Demokratie”
Die Politiker sind alarmiert, denn es geht nicht nur um Übergriffe auf Menschen, sondern gleichzeitig auch um ein abstrakteres Gut: „Im Fokus dieser Taten steht ganz klar das demokratische System insgesamt”, sagt die Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic. Auch wenn die Datenerhebung für 2016 aufgrund der Nachmeldungen noch nicht endgültig ist, zeichnet sich doch eine Tendenz ab: Die Mehrzahl der Angriffe auf Politiker kommt von rechts und besonders stark betroffen sind die fünf neuen Bundesländer. Das zeigt unsere Auswertung von 71 Regierungsantworten auf Bundestags- und Landtagsanfragen.
Büros der Linken häufiges Angriffsziel
Alle im Bundestag vertretenen Parteien in Deutschland wurden in den vergangenen Monaten mehrfach zum Opfer politisch motivierter Kriminalität, von der CDU über die SPD bis hin zu den Grünen. Betrachtet man die Angriffe auf die Büros der im Bundestag vertretenen Parteien im Jahr 2016, so zeigt sich, dass über die Hälfte der Taten in den neuen Bundesländern begangen wurden. Besonders häufig betroffen war Die Linke, deren Einrichtungen vergangenes Jahr 60 Mal ins Visier von Straftätern gerieten. Öfter als die jeder anderen Bundestagspartei.
In Mecklenburg-Vorpommern stand in der Vergangenheit ebenfalls vor allem Die Linke im Fadenkreuz. Nach Angaben der Landesregierung gab es zwischen 2006 und 2012 141 Angriffe auf Wahlkreisbüros, mehr als jeder Dritte davon richtete sich gegen Die Linke. Die Linken-Landtagsabgeordnete Karen Larisch engagiert sich in Mecklenburg-Vorpommern gegen Rechtsextremismus und geriet so ins Visier von rechten Straftätern. Bei Larisch blieb es jedoch nicht bei Sachbeschädigungen an ihrem Büro oder Wohnhaus. Sie berichtet von Drohungen, die sich persönlich gegen sie und ihre Tochter richteten:
Die brauchen nur das Wort Tochter in den Mund nehmen. Da hat nur einer gesagt: „Guck mal, ist das da deine schöne kleine 15-jährige Jungfrau? Wer weiß, wie lange noch?”.
Karen Larisch (Die Linke) in der TV-Doku „Mit Hass und Gewalt – Angriff auf die Demokratie”
Sachsen: 129 Übergriffe auf Politiker
Auch in Sachsen richtete sich die Gewalt vergangenes Jahr in vielen Fällen direkt gegen Personen: 2016 gab es im Freistaat 129 Übergriffe auf Politiker und deren Mitarbeiter, darunter zahlreiche Bedrohungen, Beleidigungen, Nötigungen. Das zeigt die
Antwort des sächsischen Innenministeriums auf eine Landtagsanfrage. Ein einzelner Vorfall schlägt sich hier deutlich in der Statistik nieder: Der Bürgermeister von Bad Schlema, Jens Müller (Freie Wähler), erhielt nach einer Äußerung in einer Gemeinderatssitzung zur Flüchtlingsthematik eine Flut an rechten Drohungen und Beleidigungen, was zu zahlreichen Strafanträgen führte:
Linke Angriffe vor allem gegen die AfD
Zum Gesamtbild gehören jedoch auch links-motivierte Attacken. Angriffsziel ist seit 2015 insbesondere die AfD. Eine Auswertung der Datenbank der sächsischen Staatanswaltschaft auf eine parlamentarische Anfrage ergab für den Zeitraum Januar bis Oktober 2016 32 Delikte gegen die AfD in Sachsen, zumeist Sachbeschädigungen an Parteibüros. Damit war die AfD hier stärker betroffen als zum gleichen Zeitpunkt Die Linke mit 26 Fällen.
In Brandenburg war die AfD vergangenes Jahr ebenfalls das Ziel zahlreicher Angriffe. Bei 17 von 28 Attacken auf Abgeordnetenbüros waren AfD-Politiker die Geschädigten. Die stellvertretende AfD-Bundesvorsitzende Beatrix von Storch wurde bereits mehrfach Opfer von Straftaten, unter anderem wurde ein Brandanschlag auf ihr Auto verübt:
Zunächst geht es gegen die Sachen, jetzt geht es inzwischen auch gegen Personen. Bislang gibt es nur Verletzte, noch keine Toten, aber die Eskalationsspirale ist angefangen.
Beatrix von Storch (AfD) in der TV-Doku „Mit Hass und Gewalt – Angriff auf die Demokratie”
Allerdings: Von Storch sieht ihre Partei offenbar nicht in der Pflicht, zu einer Deeskalation beizutragen. In der TV-Dokumentation „Mit Hass und Gewalt - Angriff auf die Demokratie” antwortet sie auf die Frage, ob die AfD zu den „Zulieferern des Hasses” gehöre: „Ich glaube, wir sprechen die Realität an. Und die Realität ist hart. Und die Realität ist aber da.”
Politisch motivierte Kriminalität auf Rekordhoch
Die Gewalt gegen Politiker aller Parteien geht einher mit dem allgemeinen Anstieg politisch motivierter Kriminalität (PMK). 2015 wurden wurden nach Angaben des Innenministeriums fast 39.000 entsprechende Straftaten registriert – die höchste Anzahl seit Einführung des Meldedienstes im Jahr 2001. Der überwiegende Teil der Straftaten erfolgte 2015 dabei von rechts (22.960), linke Straftaten wurden in weit geringerer Zahl (9.605) gemeldet. Besonders deutlich wird der Anstieg rechts-motivierter Straftaten im zweiten Halbjahr des Jahres 2015, als besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Die neuen Bundesländer stechen in dieser Statistik deutlich heraus:
1. Halbjahr 2014
2. Halbjahr 2014
1. Halbjahr 2015
2. Halbjahr 2015
1. Halbjahr 2016
2. Halbjahr 2016
PMK-rechts: Straftaten pro 100.000 Einwohner
Quelle: Monatsweise Bundestagsanfragen von CDU/CSU und SPD
BKA befürchtet erneuten Anstieg der Gewalt
Für das Bundeskriminalamt (BKA) ist der direkte Zusammenhang zwischen der Flüchtlingskrise und den Angriffen gegen Politiker offensichtlich:
Im Vordergrund [...] steht ohne Zweifel die Flüchtlingsthematik. [...] Und Personen, die sich auf diesem Thema pro und kontra engagieren, sind definitiv Reizfiguren für solche, die glauben, sie müssten mit Straftaten eingreifen in Politik.
BKA-Vizepräsident Peter Henzler in der TV-Doku „Mit Hass und Gewalt – Angriff auf die Demokratie”
Mit den abnehmenden Flüchtlingszahlen seit dem Frühjahr 2016 gingen auch die politisch motivierten Straftaten zurück - zumindest nach den vorliegenden, vorläufigen Zahlen. Das BKA spricht für 2017 allerdings von einer großen Herausforderung für die Sicherheitsbehörden und rechnet mit einem erneuten Anstieg der Gewalt. Denn Landtagswahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen stehen an. Und am 24. September ist Bundestagswahl.
Zu den Daten
Für diese Analyse wurden Antworten der Regierungen (Bund und Länder) auf parlamentarische Anfragen ausgewertet. Angriffe auf Politiker werden seit 01.01.2016 bundeseinheitlich im Kriminalpolizeilichen Meldedienst zur Politisch Motivierten Kriminalität (PMK) in den Unterthemen „gegen Amts-/Mandatsträger” und „gegen Parteirepräsentanten/-einrichtungen” erfasst. Vollständige Daten zu früheren Jahren liegen nicht vor. Da in den parlamentarischen Anfragen unterschiedliche Aspekte abgefragt wurden, zeigen viele der Zahlen nur Teilbereiche der PMK-Statistik. Viele der verwendeten Zahlen haben vorläufigen Charakter, da sie sich durch Nachmeldungen noch verändern können. Die Bundesgeschäftsstellen der Parteien selbst sammeln keine bundesweiten Zahlen zu Angriffen auf ihre Mitglieder oder Einrichtungen.
Tabelle mit allen verwendeten Anfragen