Das System Madeira
Seit 30 Jahren genehmigt die EU-Kommission extrem niedrige Steuersätze auf der portugiesischen Insel Madeira. Das Ziel: die Wirtschaft ankurbeln. Tatsächlich profitieren internationale Großkonzerne und reiche Privatpersonen. Arbeitsplätze entstehen kaum und anderen Ländern entgehen Steuereinnahmen in Milliardenhöhe. Eine Analyse von BR Data und BR Recherche.
Wir sind in der Altstadt von Funchal unterwegs, der Hauptstadt der Urlaubsinsel Madeira. In einer Seitenstraße, der Rua do Esmeraldo, soll die Firma Ciboule - Trading e Marketing ihren Sitz haben. Wir finden sie neben einem kleinen Café in einem fünfstöckigen Haus. Weder auf dem Briefkasten noch auf dem Türschild findet sich ein Hinweis auf die deutschen Eigentümer der Ciboule: Die Mitglieder der deutschen Rockband Böhse Onkelz, die über diese Firma Millionen-Umsätze verbucht haben.
Die Adresse der Onkelz-Firma Ciboule haben wir im Amtsblatt von Madeira entdeckt. Dort sind tausende Unternehmen eingetragen, die in den vergangenen Jahren die Steuervorteile der Freihandelszone Madeira ausgenutzt haben. Über viele Jahre zahlten Firmen ausländischer Investoren hier überhaupt keine Steuern, seit 2013 liegt der Steuersatz einheitlich bei fünf Prozent. Die niedrigen Steuern sollen Wachstum und Arbeitsplätze nach Madeira bringen. Doch der Plan von Portugals Regierung und der EU-Kommission geht nach unseren Recherchen nicht auf. Trotzdem erteilte Brüssel der Freihandelszone Madeira immer wieder die Genehmigung, zuletzt 2015. Wir haben das Unternehmensregister von Madeira systematisch ausgewertet und vor Ort recherchiert. So kommt ans Licht, wer wirklich vom System Madeira profitiert.
Auswertung öffentlicher Daten
Die Regionalregierung Madeiras veröffentlicht nahezu täglich das Amtsblatt Jornal Oficial da Região Autónoma da Madeira, kurz JORAM. Dort werden alle Firmeneintragungen, Änderungen der Geschäftsführung oder Umbenennungen veröffentlicht. Viele Ausgaben des JORAM liegen jedoch nur als eingescannte Dokumente vor und waren für Suchmaschinen nicht lesbar. BR Data hat 20.000 Seiten heruntergeladen und eine Suchmaschine entwickelt, mit der sie durchsucht werden können.
Viele internationale Fälle: Die Suchmaschine haben wir auch anderen Medien in Frankreich (Le Monde), Spanien (La Vanguardia) und Österreich (ORF) zur Verfügung gestellt.
Steuerparadies mit dem Segen der EU-Kommission
1987 genehmigte die EU-Kommission die Niedrigsteuer-Politik für Madeira zum ersten Mal. Portugal war erst kurz zuvor der Europäischen Union beigetreten und wollte mit einem Steuersatz von null Prozent Investoren auf die abgelegene Atlantikinsel Madeira locken. Da die Niedrigsteuern nur auf Madeira gelten sollten und nicht in ganz Portugal, handelte es sich nach EU-Recht um eine Beihilfe, die von der Kommission genehmigt werden musste. Die Erlaubnis wurde erteilt - allerdings mit einer Einschränkung:
[Die Kommission] erinnert daran, dass die vorliegende Erlaubnis keinesfalls die Zustimmung zur Etablierung eines "Offshore"-Finanzplatzes durch die autonome Regierung von Madeira in der Freihandelszone bedeutet.
Offshore-Finanzplatz: Offiziell definiert ist nicht was das heißt. Man könnte sagen: Ein Finanzplatz mit Niedrigsteuern und wenig Kontrolle. Unsere Recherchen zu Madeira zeigen: Bei vielen Firmen sind nicht Personen als Eigentümer eingetragen, sondern andere Firmen. Und die sitzen häufig in den bekannten Steuerparadiesen Panama, British Virgin Islands oder Luxemburg. Madeira ist also ein Baustein für Firmenkonstrukte, die vor allem ein Ziel haben: Steuern sparen.
Bei unseren Recherchen im Amtsblatt stoßen wir außerdem auf viele bekannte Namen, die mit Unternehmen auf Madeira von den Niedrigsteuern profitiert haben:
- Die Deutsch-Rock-Band Böhse Onkelz verbuchte Millionen-Einnahmen über ihre Firma CIBOULE – TRADING E MARKETING LDA. Sie hatte ihre Markenrechte ins Steuerparadies Madeira ausgelagert.
- Die Firma KARDZALI von Fußball-Profi Xabi Alonso (FC Bayern München). Sein Fall beschäftigt immer noch die spanische Justiz. Es geht um seine Zeit bei Real Madrid.
- Der Fußballer Javier Mascherano vom FC Barcelona. Er wurde in Spanien bereits wegen Steuerhinterziehung verurteilt. Sein Madeira-Unternehmen: ANADYR OVERSEAS.
- Jérôme Valcke, dem früheren Generalsekretär der FIFA, gehört seit April 2016 die Firma GALACTIC LEISURE auf Madeira.
- Ein Vertrauter des damaligen libyschen Diktators Gaddafi war Chef der Madeira-Firma LAP OVERSEAS.
- Isabel dos Santos, reichste Frau Afrikas und Tochter des Machthabers von Angola ist direkt oder indirekt mit mehreren Holdings auf Madeira verbunden.
Wir wollten wissen, wozu die aufgeführten Personen ihre Firmen nutzen. Die Böhsen Onkelz, Xabi Alonso und Isabel dos Santos haben allerdings nicht auf unsere Fragen geantwortet. Jérôme Valcke antwortete der französischen Zeitung Le Monde, mit der wir unsere Recherchen geteilt haben. Die Firma sei geschaffen worden, um seine Yacht in Europa anzumelden – und nicht mehr wie bisher auf den Britischen Jungferninseln. Madeira sei, was die Vorschriften angeht, vorteilhaft.
Viele der Madeira-Firmen tragen Fantasienamen. Sowas macht man oft, um die Identität der Eigentümer zu verschleiern, erklärt uns Thomas Eigenthaler von der Deutschen Steuergewerkschaft. Manche Firmenbesitzer waren bei der Namensfindung kreativ: GALACTIC LEISURE, zu Deutsch „Galaktisches Vergnügen“, heißt die Firma von Jérôme Valcke. Ein anderes Firmennetzwerk nutzt die Namen ausgestorbener Knochenfische. Andere Firmen hingegen sind schlicht durchnummeriert. Unter dem Namen TAGGIA finden wir 59 Firmen, jeweils nur durch eine römische Ziffer ergänzt.
Im Jahr 2000 fällt auch der EU-Kommission auf, dass auf Madeira etwas schief läuft. Sie stellt fest, dass die Unternehmen trotz Steuererleichterungen in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro im Jahr gerade einmal 1000 Arbeitsplätze geschaffen haben. Sie leitet ein Beihilfeverfahren gegen Portugal ein. Doch das Verfahren wird ergebnislos eingestellt. Die EU-Kommission genehmigt die Steuererleichterungen seitdem immer wieder: 2002, 2007, 2013, 2014 und 2015. Immerhin zahlen Unternehmen heute fünf Prozent Steuern und müssen Arbeitsplätze schaffen.
Arbeitsplätze sind nicht gleich Arbeitsplätze
Ein helles Büro in Funchal. Wir haben die Gelegenheit, mit einem Insider zu sprechen. Er arbeitet für eine der zahlreichen Beraterfirmen, die ausländischen Kunden bei der Firmengründung helfen und Mitarbeiter vermitteln. Er erklärt uns, wie das läuft, mit den Arbeitsplätzen im „System Madeira“: dass es durchaus möglich sei, dass ein Mitarbeiter von mehreren Firmen bezahlt werde - und trotzdem jedes Mal als ein neuer Arbeitsplatz gezählt werde. Man brauche ja keine 100 Mitarbeiter, nur um hin und wieder einen Vertrag zu unterschreiben. Das treffe vor allem auf Lizenzgeschäfte zu. Auch bezahlte Geschäftsführer zählten als Mitarbeiter und können für mehrere Firmen tätig sein. João Machado, Chef der zuständigen Steuerbehörde auf Madeira, betont, dass es sich dabei um Einzelfälle handele:
Es kann sein, dass ein Geschäftsführer für mehr als ein Unternehmen arbeitet. Normalerweise aber arbeitet jeder Geschäftsführer für ein Unternehmen.
Einzelfälle? Unsere Analyse zeigt: Einzelne Geschäftsführer sind bei dutzenden oder sogar hunderten Firmen eingetragen. Einer der Geschäftsführer in den letzten zehn Jahre sogar bei mehr als 300 Unternehmen. Die offiziellen Zahlen über die Arbeitsplätze, die durch die Niedrigsteuerzone entstanden sind, erscheinen daher fragwürdig. 1868 Firmen sollen im Jahr 2014 gerade mal 2721 Arbeitsplätze geschaffen haben. Aber wenn eine Person gleichzeitig für mehrere Firmen arbeitet, und dabei jede Anstellung als eigener Arbeitsplatz gezählt wird - dann profitieren in Wahrheit deutlich weniger Inselbewohner vom Steuerparadies.
Auch die Auswertung der Firmenadressen zeigt Auffälligkeiten, die auf Briefkastenfirmen hindeuten. In einigen Fällen sitzen mehr als hundert Firmen an derselben Adresse, auf wenige Zimmer verteilt.
Adressen in Funchal, bei denen in den letzten fünf Jahren 30 oder mehr Firmen registriert waren:
Allein im Gebäude der Avenida Arriaga 73-77 saßen in den letzten fünf Jahren knapp 800 Firmen. Auch an sieben anderen Adressen im Zentrum Funchals finden sich Firmen mit mehr als hundert registrierten Unternehmen. Oft firmieren diese anonym unter der Adresse einer der zahlreichen Beraterfirmen. Keine Klingel, keine Namen auf den Briefkästen.
Wenn an derselben Adresse hunderte von Firmen angeblich ansässig sind und man dort hinschaut und dort gibt es nur eine Klingel – vielleicht noch einen Geschäftsführer, aber auch das steht oft nur auf dem Papier – dann ist das eine typische Briefkastenthematik, die wir auch aus anderen Steuerparadiesen kennen.
Rund um das Thema Firmengründungen in Steueroasen hat sich eine ganze Branche von Dienstleistern entwickelt. Wer im Internet nach Tipps sucht, stößt auf Seiten, die Madeira als „Steuerparadies in der EU“ anpreisen. Bei einigen Anbietern steht Madeira direkt neben anderen Steueroasen wie Zypern, Malta und Luxemburg. Die Anbieter kümmern sich vor Ort um ein Büro, eröffnen ein Firmenkonto und stellen auf Wunsch die notwendigen Mitarbeiter. Für die werden monatlich zwischen 230 und 412 Euro fällig.
Kampf um den niedrigsten Steuersatz
Wie wenig nachhaltig die Niedrigsteuer-Politik ist, zeigt die Entwicklung seit 2011. Bis dahin hatten einige weltbekannte Großkonzerne Tochterfirmen auf Madeira. Der US-Ölkonzern Chevron taucht in den Dokumenten auf, genau wie sein italienischer Konkurrent eni. Außerdem finden wir den Getränkeproduzenten Pepsi, den russischen Aluminiumgiganten Rusal und den Schweizer Uhrenmacher Swatch. Viele Unternehmen verließen Madeira, als der Steuersatz von null auf bis zu fünf Prozent angehoben wurde. Im globalen Wettbewerb sind manchen offenbar selbst fünf Prozent Steuern noch zu viel.
Allerdings: Für reiche Privatpersonen lohnt sich das Steuerspar-Modell offenbar immer noch. Erst 2016 registrierten etwa der Ex-Fifa-Generalsekretär Jérôme Valcke und ein ehemaliger deutscher Lidl-Manager Firmen auf Madeira.
Kritik aus dem EU-Parlament
Die EU-Kommission verteidigt die Niedrigsteuer-Politik für Madeira, als wir sie mit unseren Recherchen konfrontieren:
Die Freihandelszone Madeira ist ein Job-Motor für die Region Madeira. Alles was ich momentan sagen kann, ist: Die Kommission hat keinerlei Hinweise, dass das Modell nicht im Einklang mit den dafür vorgeschriebenen Regeln ist.
Doch es gibt auch kritische Stimmen aus dem Europaparlament. Der Europa-Abgeordnete Markus Ferber (CSU) findet, dass das System Madeira die Glaubwürdigkeit der EU im Kampf gegen internationale Steueroasen wie Panama untergrabe:
Eigentlich kann ein fairer Wettbewerb in Europa nur funktionieren, wenn diese Sümpfe ausgetrocknet werden. Am Ende leiden wir alle darunter. Auch dem deutschen Fiskus entgeht Geld durch Madeira, auch anderen Mitgliedstaaten entgeht dadurch Geld.
Kein Ende in Sicht
Wenn man sich Statistiken zu Arbeitslosigkeit und Pro-Kopf-Einkommen anschaut, geht es Madeira besser als vielen Regionen in Griechenland, dem Süden Spaniens oder Italiens. Auf die Freihandelszone wollen die Politiker fast aller Parteien auf der Insel allerdings nicht verzichten. Auch die Regierung in Lissabon hält an der Niedrigsteuer-Politik fest. Und die EU-Kommission hat sie sogar schon bis 2027 genehmigt. Am System Madeira wird sich so schnell nichts ändern.