Das ist ein audiovisueller Rundgang. Für den besten Klang empfehlen wir dir Kopfhörer.

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Die Befreiung

Willkommen bei „Die Befreiung“

Herzlich willkommen zu „Die Befreiung“, einem virtuellen Rundgang über die KZ-Gedenkstätte Dachau. Hier erzählen wir dir, wie das KZ Dachau am 29. April 1945 durch die Amerikaner befreit wurde. Dazu zeigen wir dir Fotos, die du auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte an Originalschauplätzen positionieren kannst. Und du hörst Aufzeichnungen von verschiedenen Augenzeugen. Deren Berichte sind zwangsläufig subjektiv und lückenhaft. Daher zeigen wir viele unterschiedliche Blickwinkel auf den Moment der Befreiung.

Häftlinge drängen aus Fenstern und Türen des Jourhauses. US-Soldaten stehen davor (Foto: USHMM) SS-Untersturmführer Heinrich Wicker, ein US-Soldat, Victor Maurer vom Roten Kreuz und US-General Henning Linden auf der Mauer

1 Das Jourhaus

Dieses Foto ist am 29. April 1945 entstanden – dem Tag der Befreiung durch die Amerikaner. Du stehst jetzt fast an derselben Stelle, wie damals der Fotograf. Du kannst das Foto also direkt über das Haus mit dem Eingangstor legen. Das Haus heißt übrigens Jourhaus.

Unser virtueller Rundgang umfasst 12 Bilder und dauert etwa 25 Minuten. Ein kleiner Hinweis noch: Nicht alle Aufnahmeorte der Fotos sind heute für die Öffentlichkeit zugänglich. Und nicht bei allen Fotos ist klar, wo sie aufgenommen wurden. Um die Befreiung aber möglichst umfassend zu erzählen, wirst du gleich auch Fotos sehen, die eigentlich außerhalb der heutigen Gedenkstätte entstanden sind. Dieses Foto hier ist eindeutig. Schauen wir nochmal genauer hin: Das Foto zeigt den Eingangsbereich zum Häftlingslager kurz nach der Befreiung. Der Mann auf der Mauer ist General Henning Linden, Brigadegeneral der 42. Infanteriedivision, genannt “Rainbow Division”, der US-Armee. Vor ihm steht ein Mann mit weißer Armbinde. Das ist Victor Maurer, ein Delegierter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes. Er ist am Tag vor der Befreiung in Dachau angekommen und soll dafür sorgen, dass das Konzentrationslager friedlich an die Amerikaner übergeben wird. Links von Victor Maurer, der große Mann, ist der SS-Untersturmführer Heinrich Wicker. Er ist 23 Jahre alt und erst seit zwei Tagen Lagerkommandant, denn die ursprünglichen SS-Leute sind geflohen. Sie wollen nicht von den Amerikanern gefangen genommen werden.

Im Hintergrund siehst du ziemlich viele Leute, die aus den Fenstern und Türen des Jourhauses herausschauen. Die meisten sind Häftlinge – du bekommst hier hier schon eine Ahnung, wie voll das Lager ist: Mehr als 32.000 Menschen sind am Tag der Befreiung im KZ-Dachau eingesperrt. Gebaut wurde das Lager für 6.000.

Als die Amerikaner am KZ-Dachau eintreffen, ist das erste, was sie sehen, allerdings nicht das Jourhaus.

Lass uns zum nächsten Bild gehen und dann auch den ersten Augenzeugen hören.

Strommasten entlang einer Bahnstrecke Leichen liegen in und vor einem offenen Güterzug. US Soldaten schauen in die Waggons (Foto: USHMM)

2 Die Toten im Zug von Buchen­wald

Das erste, was die US-Soldaten sehen, ist: ein Güterzug voller Leichen. Der Zug stand nicht genau hier. Sondern etwa einen Kilometer entfernt. Da war früher das SS-Lager. Dieser Ort ist heute nicht für Besucher*innen zugänglich.

In diesen Waggons sind Häftlinge aus dem KZ Buchenwald bei Weimar nach Dachau transportiert worden. Sie waren drei Wochen ohne ausreichende Verpflegung unterwegs. Von den fast 5000 Häftlingen, die in Buchenwald losgefahren sind, hat die Hälfte den Transport nicht überlebt. Hunderte von Leichen liegen in den offenen Waggons.

Diese Toten sind das erste, was die 42. und die 45. Infanteriedivision der US-Armee auf ihrem Vormarsch zum KZ Dachau sehen. Die Soldaten, viele unter ihnen sind noch nicht einmal 20 Jahre alt, sind entsetzt von dem Anblick.

Einer, der die Situation miterlebt, ist 1st Lt. William Cowling von der 42. Infanteriedivision der US-Armee. Er wird von ein paar Journalisten begleitet. Er ist auf dem Foto nicht abgebildet, aber beschreibt die Situation in einem Brief an seine Eltern:

"Unterwegs erfuhren wir von Zivilisten und zwei Zeitungsleuten, dass abseits der Hauptstraße das Konzentrationslager Dachau lag. Diese Zeitungsleute hatten vor, sich das Lager anzusehen, also beschlossen wir, das auch zu tun. Wir fuhren mit einer Wache in einem Jeep vor. Wir waren ein paar hundert Meter voraus, als wir das Lager erreichten. Das erste, auf was wir stießen, war ein Gleis, das aus dem Lager führte, mit einer Menge offener Güterwaggons darauf. Als wir das Gleis überquerten und in die Waggons zurückschauten, war das der schrecklichste Anblick, den ich (bis dahin) jemals gesehen hatte. Die Waggons waren mit Leichen gefüllt. Die meisten von ihnen waren nackt und alle von ihnen nur Haut und Knochen. Wirklich, ihre Beine und Arme hatten nur einen Umfang von ein paar Zentimetern und sie hatten überhaupt kein Gesäß. Viele der Toten hatten Einschusslöcher am Hinterkopf. Uns wurde schlecht, und so konnten wir nichts Anderes tun als die Fäuste zu ballen. Ich konnte nicht mal sprechen

Dann fuhren wir weiter zum Lager, und mein Jeep war immer noch ein paar hundert Meter voraus. Als wir das Haupttor erreichten, kamen ein deutscher Offizier und ein Zivilist, der eine Binde des Internationalen Roten Kreuzes und eine weiße Flagge trug, heraus. Wir stiegen sofort nacheinander aus und ich hoffte nur, dass er eine komische Bewegung machen würde, damit ich den Abzug meines Maschinengewehrs betätigen könnte. Aber das tat er nicht, und als er uns direkt gegenüberstand, fragte er nach einem amerikanischen Offizier. Ich sagte ihm, dass er zu einem spreche und er sagte, dass er das Lager an mich übergeben wolle."


Gehen wir zum nächsten Bild und schauen, was passiert.

SS-Untersturmführer Heinrich Wicker, Paul Lévy, Victor Maurer, General Henning Linden und weitere US-Soldaten stehen im Kreis (Foto: USHMM) Ein unbekannter SS-Mann und ein unbekannter US-Soldat stehen dabei.

3 Die Amerikaner sind da

Auf dem Foto siehst du den Moment der Übergabe des Konzentrationslagers Dachau an die US-Armee. Von links nach rechts siehst du: einen SS-Mann mit hinter dem Rücken verschränkten Armen. Er verdeckt den Mann dahinter, den aktuellen Lagerkommandanten SS-Untersturmführer Heinrich Wicker. Der Mann mit dem hellen Halstuch uns gegenüber ist der belgische Journalist Paul Lévy, der als Übersetzer die Amerikaner begleitet. Mit dem Rücken zu uns: Victor Maurer vom Internationalen Roten Kreuz, er trägt einen Stab, an dem er eine weiße Fahne befestigt hat. Die ist hier schlecht zu erkennen. Daneben mit dem Gesicht zu uns: der Brigadegeneral der 42. Infanteriedivision “Rainbow”: Henning Linden. Die anderen sind unbekannte US-Soldaten.

Die Übergabe fand nicht genau hier statt.

Es ist Sonntag, 29. April 1945, gegen 17 Uhr.
Der Mann mit der weißen Armbinde, der Schweizer Victor Maurer vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ist schon einen Tag vorher in Dachau angekommen. Er soll die Übergabe des Lagers vorbereiten. Er beschreibt genau diesen Moment noch am gleichen Abend in einem Bericht:

"Der Kriegslärm wurde unerträglich. Ich merkte, dass er vor den Mauern des KZ war und ich entschloss, mich zu folgendem: ich nahm einen Besenstiel und befestigte an den eine weisse Serviette. Ich bat den deutschen Offizier mich zu begleiten, so verliessen wir das Haupttor des K.Z.‚ die Kugeln pfiffen nur so.

Einige Momente später sah ich eine kleinere motorisierte amerikanische Abteilung, durch mein Winken mit der weissen Flagge lenkte ich deren Aufmerksamkeit auf uns. Wir [waren] bald umstellt von verschiedenen amerikanischen Militär Auto[s]. Ich stellte mich den Herren vor. Der General bat mich erst, in der Begleitung des deutschen Offiziers rasch ein paar Pressefotos zu machen und zwar von einem Eisenbahnzug wo voller toten Menschen war. Wie ich später erfahren habe, war dies ein Zug wo von Buchenwald hergekommen sei, alles Gefangene. Nach meiner Ansicht sind viele getötet worden‚ während andere sehr wahrscheinlich verhungert sind. Ich habe einen gewissen Major Avery kennen gelernt und habe ihm die ganzen Pläne, betreffend der Übergabe mitgeteilt, mit der Bitte er soll sie dem General übermitteln. Nun kamen wir mit dem Wagen zurück in den Hof des KZ, wo welche Amerikaner bereits schon drinnen waren. Die Häftlinge, die tausenden, ein Mob, war außer sich und waren rasend vor Freude."


Während Victor Maurer noch mit dem General spricht, machen sich schon ein paar Journalisten und US-Soldaten auf zum Eingang. Das machen wir jetzt auch.

Junge Häftlinge stehen hinter dem Tor mit der Aufschrift “Arbeit macht frei” (Foto: Maurice Ede, Gamma Presse, Getty-Images)

4 Das Tor

Das Eingangstor zum Konzentrationslager. Das Tor trägt die bekannte Aufschrift: “Arbeit macht frei.” Das Foto ist kurz nach der Befreiung aufgenommen worden. Durch dieses Tor betreten die US-Soldaten und zwei Journalist*innen das Lager - nicht ahnend, was passieren wird. Lassen wir noch einmal Lt. William Cowling von der 42. Infanteriedivision zu Wort kommen. Er begleitet die Journalist*innen:

"Die Zeitungsleute sagten, dass sie ins Lager reingehen würden und ich bekam die Erlaubnis, zusammen mit meiner Wache mit ihnen mitzugehen, während die anderen beim General blieben. Wir gingen durch ein Tor und entdeckten einige Deutsche in einem Turm. Ich brüllte auf Deutsch, dass sie zu mir kommen sollten, und das taten sie auch. Ich schickte sie zurück zu den Wachen und demGeneral und stieg auf die Motorhaube des Jeeps der Zeitungsleute und steuerte auf das Tor zu.

Ein Mann lag tot direkt vor dem Tor. Eine Kugel durch seinen Kopf. Einer der Deutschen, die wir gefangen genommen hatten, zog ihn aus dem Weg und wir stiegen aus und gingen durch das Tor auf einen großen betonierten Platz, etwa 800 qm, umgeben von niedrigen schwarzen Baracken, und alles war von Stacheldraht umgeben. Als wir durch das Tor gingen, war keine Seele in Sicht. Dann kamen plötzlich Leute (wenn man sie so nennen konnte) aus allen Richtungen. Es waren dreckige, verhungerte Skelette und sie schrien, brüllten und weinten. Sie rannten auf uns zu und griffen nach uns, nach mir und den Zeitungsleuten, küssten unsere Hände und Füße und alle versuchten uns zu berühren. Sie schnappten uns und warfen uns in die Luft, und sie schrien sich dabei die Lungen raus."


Gehen wir auch durchs Tor.

Ehemalige Häftlinge und US-Soldaten stehen zusammen und feiern (Foto: Archiv KZ-Gedenkstätte Dachau) Ein unbekannter ehemaliger Häftling und drei US-Soldaten sprechen miteinander Ein unbekannter ehemaliger Häftling hat eine Flasche in der Hand

5 Endlich frei

Auf diesem Foto siehst du, wie einige Häftlinge mit US-Soldaten gemeinsam feiern. Ein Ausdruck der Freude und Erleichterung.
Einer der Häftlinge, die da auf die Amerikaner zustürmen, ist der belgische Widerstandskämpfer Arthur Haulot. Er ist ein Freund von Paul Lévy, dem Belgier, der die Amerikaner als Übersetzer begleitet. Paul Lévy hast du schon kurz gesehen, der Mann mit dem weißen Halstuch. Noch ahnen die Freunde nicht, dass sie sich gleich wiedersehen werden. Der Häftling Arthur Haulot erlebt den Moment seiner Befreiung und des Wiedersehens so:

"Zwei Soldaten übersteigen das Gitter. Einer fällt mir in die Arme. Ich küsse ihn, er küsst mich… und ich bemerke, dass er eine Frau ist. Amerikanische Kriegsberichterstatterin, der erste amerikanische Staatsbürger, der in das befreite Lager eindringt. Was dann folgt, ist Wahnsinn. Das gesamte Lager drängt sich gegen die Gitter. Die auf der anderen Seite zusammen getriebenen SS-Leute werden öffentlich verhöhnt. Wenn sie uns in die Hände fielen, würden wir sie zerreißen. Die Masse brüllt ihre Freude hinaus. Unmöglich, sie zu beruhigen. Aber welche Überraschung, welche Freude fürmich! In der Gruppe um den amerikanischen General entdecke ich Paul Lévy! Er kam, um mich zu suchen."

Was für ein Glück, dass die beiden Freunde sich nach all der Zeit hier, an diesem Ort, mitten im Krieg wiederfinden. Lassen wir Paul Lévy auch noch kurz zu Wort kommen:

"In diesem Moment hielt ich es nicht mehr aus. Ich beeilte mich, ins Camp zu kommen. Maschinengewehrfeuer ratterte erneut.
Das ist der Augenblick, in dem die Gefangenen die Amerikaner sehen und durch die Türen ihrer Baracken brechen. Ein riesiger Lärm ertönt. Durch die Gitter sehe ich Tausende Menschen wie verrückt loslaufen, sich über den ganzen Appellplatz ausbreiten. Ich versuche durch das Tor zu kommen. Drinnen: weinende, schreiende, Beifall klatschende Insassen, schütteln meine Hände, küssen sie.
Und plötzlich höre ich wie mein Name gerufen wird - von einer vertrauten Stimme. Arthur Haulot ist dort! Unser lieber Arthur, in seiner zebragestreiften Häftlingsuniform, trägt ein rotes Dreieck mit einem schwarzen B für die belgischen, politischen Gefangen."


Die meisten Häftlinge sind allerdings viel zu schwach, um den Amerikanern entgegen zu laufen. Schauen wir uns den Zustand des Lagers zum Zeitpunkt der Befreiung genauer an.

Mehrere Häftlinge auf dem Appellplatz vor einer Baracke (Foto: Archiv Ghetto Fighters House) Ein Häftling trägt eine Bahre Drei unbekannte, unterernährte und schwache Häftlinge stützen sich gegenseitig und gehen über den Appellplatz

6 Am Ende ihrer Kräfte

Auf diesem Bild siehst du unterernährte und von Krankheit gezeichnete Häftlinge, die sich gegenseitig stützen. Im KZ-Jargon werden sie “Muselmänner” genannt. Gemeint sind völlig verhungerte, teilnahmslose Häftlinge, die dem Tod näher als dem Leben sind. Einer, der die Befreiung aus Sicht der Kranken beschreibt, ist Ben Lesser. Er ist auf dem Foto nicht abgebildet. Ben ist damals 17 Jahre alt - und er hat gemeinsam mit seinem Cousin Isaac den Todeszug aus Buchenwald knapp überlebt, den du schon gesehen hast.

"Drei Tage später hatten sich Isaac und ich nicht bewegt und lagen immer noch auf dem Boden. Wir dachten, dass wir uns die Geräusche von Jubel, die vom Lagerplatz zu uns hereindrangen, nur einbildeten. Es klang so, als versuchten Gefangene, die fast tot waren, in vielen verschiedenen Sprachen “Befreiung, Befreiung” zu rufen. Diejenigen, die wir am deutlichsten verstanden, waren die jiddischen Stimmen: „Bafreiung!“ Wir waren verwirrt und doch neugierig, warum so viele Muselmänner - so nannten wir die Männer, die fast tot waren - dieses Wort so ekstatisch riefen. Mein Cousin und ich lehnten uns aneinander, um Halt zu finden und zwangen uns, irgendwie aufzustehen. Wir hielten uns aneinander fest und humpelten auf zittrigen Beinen nach draußen. Wir sahen eine Menge jubelnder Gefangener, von denen jeder der erste sein wollte, der unsere Retter zu umarmt. Traurigerweise sahen wir auch viele, die hinfielen und starben, bevor sie ihre Befreier berühren konnten.

Die Amerikaner waren durch den Anblick der ausgemergelten, wandelnden Skelette und der überall herumliegenden, aufgestapelten Leichen so schockiert und angewidert, dass viele von ihnen auf die Knie fielen, schluchzten und sich übergaben.

Isaac und ich konnten kaum stehen und hielten uns aneinander fest, zu benommen, um uns zu bewegen und zu überwältigt, um überhaupt zu denken. Wir sahen zwei junge, saubere und gesunde amerikanische Soldaten, die auf uns zukamen. Wir wussten nicht einmal, was wir denken oder fühlen sollten. Sie versuchten, ihr Entsetzen über unseren Anblick mit einem freundlichen Lächeln zu verbergen."


Wie Ben Lesser sind viele Gefangene gerade in den Baracken als die Amerikaner ankommen. Gehen wir also zu der rechten Baracke.

Die österreichische Ärztin Ella Lingens, selbst Gefangene im KZ Dachau, beugt sich über das Bett einer kranken Inhaftierten Eine kranke unbekannte Frau liegt auf einem Bett und wird untersucht (Foto: Lee Miller Archive)

7 Mehr tot als lebendig

Hier siehst du die österreichische Ärztin Ella Lingens, die gerade eine andere Mitgefangene untersucht. Unter den 32.000 befreiten Häftlingen sind knapp 300 Frauen. Die meisten weiblichen Häftlinge sind nicht in Dachau selbst, sondern in den Außenlagern des KZ. Ella Lingens ist als Gegnerin des Nationalsozialismus seit zwei Jahren in Gefangenschaft.

"Wir Frauen erfuhren das alles nur unvollständig und bruchstückweise. Ich hatte in diesen Tagen wieder sehr viel Arbeit, denn 250 Frauen, die aus Sachsen in 14 Tagen zu Fuß nach Dachau marschiert waren, sahen fürchterlich aus und mussten an den Füßen verbunden werden. Wir hatten keine Zeit, uns über irgendetwas anderes den Kopf zu zerbrechen.

Um 5 Uhr nachmittags, ich machte einen Fußverband nach dem anderen, hörte ich Schüsse und lautes, triumphierendes Geschrei. Mit einem Wiener Genossen, der gerade in der Nähe war, lief ich zum Appellplatz. Das Tor des Schurhauses (sic) stand offen und hereinkamen, begrüßt vom unbeschreiblichen Jubel der Häftlinge, die ersten amerikanischen Soldaten."


Wir schauen noch etwas weiter entlang der Baracke.

Mehrere unbekannte Häftlinge schauen aus einem Fenster einer Baracke heraus (Foto: USHMM) Mit Draht vergitterte Fenster einer Baracke im KZ Dachau

8 Hoffen und Bangen

Auf dem Foto siehst du mehrere Häftlinge, die aus dem Fenster einer Baracke schauen. Es wurde kurz nach der Befreiung aufgenommen. Wer sie genau sind, wissen wir nicht.
Am Tag der Befreiung, dem 29. April 1945 bleiben die meisten Häftlinge in den völlig überfüllten Baracken. Viele sind zu schwach, viele haben aber auch Angst. Einige Häftlinge haben von einem Befehl gehört, dass die SS alle Inhaftierten töten soll. Zudem gibt es seit Tagen keine Verpflegung mehr. Auch dass das Lager durch die Kriegsgefechte zerstört wird, ist eine Befürchtung. Der Slowene Anton Gortnar ist auf dem Foto nicht zu sehen, aber er berichtet davon, wie die Befreiung nach und nach die Runde macht.

"Der 29. April war ein Sonntag. Gleich in der Früh bemerkten wir eine weiße Fahne außerhalb des Lagers. Das Lager ergibt sich! Die Wachposten waren noch immer auf ihren Türmen. Am Tag hören wir von der Plantage her ab und zu eine Schießerei. Die Kugeln flogen auch über das Lager. Wir hielten uns in den Baracken auf und warteten. Um halb sechs hörte ich das Stampfen laufender Beine auf der Lagerstraße. Ich ging aus der Baracke hinaus und sah einen Strom von Menschen, der Richtung Appellplatz lief. Von Mund zu Mund ging das Wort: ‚Amerikaner, Amerikaner!‘ Ich sah sie, wie sie einer nach dem anderen entlang des Lagerzauns gingen. Der Appellplatz war im Nu voll mit Häftlingen. Schreie der Freude und der Begeisterung! Hin und wieder eine verspätete Garbe aus dem Maschinengewehr in den Wachtürmen. Aber auch diese Maschinengewehre verstummten auf ewig. Einige Gefangene durchbrachen den Zaun und zerrissen die von den Wachtürmen kriechenden Wachposten."

Was mit den SS-Leuten geschieht, schauen wir uns später nochmal an. Als nächstes werfen wir einen Blick in eine Stube einer Baracke.

Mehrere unbekannte Häftlinge liegen dicht gedrängt auf den Stockbetten in einer Baracke, ein Häftling klettert hinauf (Foto: Lee Miller Archive)

9 Zu wenig Platz für zu viele Menschen

Der Zustand des Lagers ist erschreckend und kaum zu beschreiben. Darüber hinaus ist es mit über 32.000 Menschen völlig überfüllt - das Lager ist eigentlich für 6.000 Gefangene ausgelegt. Hier ein Foto der Fotografin Lee Miller von einer Stube in einer Baracke. Es wurde am Tag nach der Befreiung aufgenommen, um die Zustände zu dokumentieren. Du hörst noch einmal Anton Gortnar, der die Situation in den Baracken beschreibt.

"Unser Lager wurde so voll, dass in jedem Zimmer 300 und mehr Häftlinge waren. Stockbetten wurden auch in die Wohnstuben aufgestellt. Es war keine Rede mehr von der „Sauberkeit“, die in den ersten Jahren der „Stolz“ dieses Lagers war. Alles war verlaust, es gab Fleckfieberepidemien, Durchfall und andere Krankheiten. Die Kranken blieben in ihren Betten und starben dort. Dort verrichteten [sie] auch ihre Notdurft und auf den sogenannten Invalidenblöcken (Blöcke mit ungerader Zahl von 15 bis 19) stank es fürchterlich. Nicht einmal die Toten wurden regelmäßig weggebracht. Gefangene, die noch genügend Kraft hatten, warfen sie durch die Fenster hinaus, die Toten auf den oberen Betten, die man wegen Entkräftung nicht erreichen konnte, ließ man gleich dort. Nur im Januar [1945] starben 4.500 Menschen, davon 70% an Fleckfieber. Die Krematorien konnten solch eine Anzahl von Leichen nicht mehr bewältigen."

Was Anton Gortnar beschreibt, mag man sich kaum vorstellen. Allein von Anfang Januar bis zum Tag der Befreiung sind hier 7110 Häftlinge gestorben. Wir schauen jetzt genauer hin.

Menschen hocken und stehen in einer Straße zwischen zwei Baracken im KZ Dachau (Foto: Lee Miller Archive) Mehrere unbekannte Häftlinge stehen dicht gedrängt zwischen zwei Baracken Vier Leichen liegen zum Teil unbedeckt an der Hauswand einer Baracke

10 Überall Leichen

Für viele Gefangene kommt die Rettung zu spät. Auf dem Foto siehst du ausgemergelte Leichen, die zwischen den Baracken abgelegt wurden. Daneben stehen ehemalige Häftlinge. Seit dem Winter 1945 gibt es im Lager keinen Brennstoff mehr, um im Krematorium die Leichen zu verbrennen.

Die Journalistin Marguerite Higgins begleitet als Kriegsberichterstatterin die 42. Infanteriedivision der US-Armee. Du hast schon von ihr gehört - sie ist eine der ersten, die das Konzentrationslager Dachau betritt. Marguerite Higgins schreibt für die “New York Herald Tribune”. In ihrem Bericht vom 29. April 1945 schildert sie unter anderem Situationen wie diese auf dem Foto:

"Die Baracken in Dachau waren angefüllt mit dem Gestank von Tod und Krankheit. In sechs Baracken lagen Verhungernde und Sterbende buchstäblich einer auf dem anderen: 1200 Menschen in Räumen, die für 200 berechnet waren. Die Toten lagen auf asphaltierten Wegen außerhalb der Baracken und andere wurden gerade hinausgetragen, während die Reporter durchgingen. An allen ausgemergelten Leichen waren die Merkmale des Verhungerns zu sehen. Viele Lebende waren so schwach, dass ihr Überleben unmöglich schien."

Wir gehen jetzt weiter zum Stacheldraht beim Wachturm.

Junge Häftlinge stehen hinter dem Stacheldraht, winken und jubeln in die Kamera (Foto: Horace Adams / Hulton Archive / Getty Images)

11 Rettung im letzten Augenblick

Der Moment der Ankunft der Amerikaner: Die jugendlichen Häftlinge hinter dem Stacheldraht jubeln ihren Befreiern entgegen. Vermutlich wurde das Foto nicht genau an dieser Stelle aufgenommen.

Unter den befreiten Häftlingen sind über 1.000 Kinder und Jugendliche. Steve Ross ist 14 Jahre alt, als er im KZ Dachau befreit wird. Damals heißt er noch Szmul Rozental. Bei einem späteren Besuch in der Gedenkstätte Dachau glaubt er sich auf diesem Foto wiederzuerkennen. Seiner Erinnerung nach ist er von links der erste Junge mit der gestreiften Häftlingskleidung am Stacheldraht. Steve Ross erinnert sich an diesen Moment so:

"Ich sah, wie Gefangene zum Haupttor liefen. Ich war sehr schwach und konnte kaum laufen, aber ich musste zum Tor. Ich lief ein Stück, aber dann wurde mir schwindlig und ich fiel hin. Mein Bruder wollte nicht, dass ich ging, aber er folgte mir. Als ich fiel, half er mir auf und ging mit mir. Überall lagen hunderte von Leichen. Wir waren gezwungen, auf manche zu treten, um weiterzukommen.

Auf unserem Weg sahen wir riesige Soldaten, die in ihren Armen ausgezehrte Opfer trugen. Sie sprachen uns an, aber wir konnten sie nicht verstehen. Als wir näher kamen, sahen wir viele Soldaten das Lager betreten. Es herrschte so ein Chaos und Durcheinander, dass die Soldaten nicht wussten, was sie als erstes tun sollten.

Sie gaben uns sofort zu essen: Kekse, Konserven, Schokolade. Sie teilten sogar ihre Zigaretten mit uns. Wir nannten sie 'Armee Gottes'. Ich schaute sie an, sie schauten mich an. Ich wollte ein Soldat sein, genau wie sie. Als ich so starke Männer sah, die mein Leben gerettet hatten, war ich so überwältigt vor Freude und Glück. Wären sie ein paar Tage später gekommen, hätte ich vielleicht nicht überlebt."


Für das nächste Foto bleiben wir noch hier: auf dem Todesstreifen zwischen Stacheldraht und Außenmauer.

Mehrere Leichen von erschossenen SS-Wachleuten liegen an der Außenmauer des KZ Dachau. Im Hintergrund: ein Wachturm. Ein Stacheldrahtzaun umgibt das Gefangenlager. Im Hintergrund: Baracken des KZ Dachau (Foto: Ein US-Soldat mit einem Gewehr (Foto: USHMM)

12 SS-Männer werden erschossen

Auf dem Bild siehst du einen US-Soldaten vor einer Gruppe erschossener SS-Wachleute. Am Tag der Befreiung liefern sich die Amerikaner mit den SS-Leuten zum Teil noch Schusswechsel auf dem KZ-Gelände. Einige werden auch an Ort und Stelle von US-Soldaten hingerichtet oder vereinzelt von Häftlingen getötet. Das hast du schon gehört. Die meisten Häftlinge sind gegen diese Racheakte. Johann Steinbock, ein katholischer Priester, der vier Jahre in Dachau gefangen war, erlebt das so:

"Wir eilen umher, da sehen wir schon beim Wachturm B außerhalb Block 18 fünf SS-Männer erschossen liegen. Oben auf dem Turm ragt auf der Lagerseite noch das Maschinengewehr heraus, auf der Außenseite weht ein weißes Tuch. Die zusehenden Häftlinge erzählen, die Männer seien heruntergekommen, die Amerikaner hätten sie abgegriffen, es sei wohl etwas gesagt worden, vielleicht eine Verneinung von Waffen, plötzlich bei einem Griff zuckte der Amerikaner, zückte seine Maschinenpistole kaum merklich und durch eine kleine Fingerbewegung lagen die fünf tot auf der Erde.

Wir suchten den Grund der weiteren Schüsse. An der Lagermauer auf der anderen Seite nächst dem Plantagentor sahen wir acht SS-Männer erschossen liegen. Sie waren abgeführt worden aus den Türmen; warum sie an die Wand gestellt wurden, konnte ich nicht erfahren."


Gehen wir nun zum letzten Bild.

Drei unbekannte, unterernährte, junge Häftlinge sitzen auf den Stufen vor einer Baracke des KZ Dachau (Bild: USHMM)

13 Wie soll es weiter­gehen?

Die Häftlinge auf diesem Foto sind unbekannt. Wir wissen nicht, wer sie sind. Das Bild ist kurz nach der Befreiung entstanden.

Der Tscheche Heinz J. Herrmann ist 24 Jahre alt und seit 1942 in KZ-Gefangenschaft. Er kommt erst im Januar 1945 von Auschwitz nach Dachau. Er ist auf dem Foto nicht abgebildet. Seine Erinnerung an die Befreiung zeichnet aber die Stimmung gut nach, die dieses Bild vermittelt:

"So mancher, mich eingeschlossen, verstand gar nicht, was mit ihm vorging, daß er keine Angst mehr haben mußte, daß er von einer Minute zur anderen kein gehetztes Tier, sondern ein freier Mensch geworden war. Ich kann mich an keinen großen Jubel erinnern, nur wenige hatten die Kraft für stürmische Begeisterung, aber jeder gab auf seine Weise seiner Freude Ausdruck. Leute knieten nieder und beteten, weinten, lachten, stürzten sich auf die Befreier und umarmten sie. Andere suchten nach ihren Freunden, um mit ihnen den großen Augenblick zu genießen, und viele wußten nicht, was sie mit der neuen Freiheit anfangen sollten. Gab es Angehörige, zu denen sie zurückkehren konnten, gab es eine Heimat, die bereit war, sie aufzunehmen, gab es eine Existenz für sie nach all den Jahren, während derer für sie "gesorgt" worden war? Sehr, sehr viele der Befreiten lagen irgendwo apathisch, entkräftet und willenlos herum, und viele von ihnen überlebten ihre Befreiung nur um Stunden und Tage. Ihnen war nicht mehr zu helfen, sie wußten gar nicht, daß sie befreit waren"



Der virtuelle Rundung zum 75. Jahrestag der Befreiung ist jetzt vorbei. Wenn Du noch mehr erfahren willst, dann hör Dir auch unseren Podcast dazu an: „Die Befreiung - Die letzten Stunden in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau“. Darin kommen einige von den Menschen, die Du gerade beim Rundgang kennengelernt hast, ausführlicher zu Wort.

Titelbild vom Podcast „Die Befreiung“

Die Befreiung – Podcast

Weiter eintauchen im Podcast: Die Geschichten einzelner Häftlinge und Befreier aus dem Rundgang werden hier vertieft und um Schicksale aus dem KZ Flossenbürg ergänzt.

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