Die Befreiung
Willkommen bei „Die Befreiung“
Herzlich willkommen zu „Die Befreiung“, einem virtuellen Rundgang über die KZ-Gedenkstätte Dachau. Hier erzählen wir dir, wie das KZ Dachau am 29. April 1945 durch die Amerikaner befreit wurde. Dazu zeigen wir dir Fotos, die du auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte an Originalschauplätzen positionieren kannst. Und du hörst Aufzeichnungen von verschiedenen Augenzeugen. Deren Berichte sind zwangsläufig subjektiv und lückenhaft. Daher zeigen wir viele unterschiedliche Blickwinkel auf den Moment der Befreiung.
1 Das Jourhaus
Dieses Foto ist am 29. April 1945 entstanden – dem Tag der
Befreiung durch die Amerikaner. Du stehst jetzt fast an
derselben Stelle, wie damals der Fotograf. Du kannst das Foto
also direkt über das Haus mit dem Eingangstor legen. Das Haus
heißt übrigens Jourhaus.
Unser virtueller Rundgang umfasst 12 Bilder und dauert etwa 25
Minuten. Ein kleiner Hinweis noch: Nicht alle Aufnahmeorte der
Fotos sind heute für die Öffentlichkeit zugänglich. Und nicht
bei allen Fotos ist klar, wo sie aufgenommen wurden. Um die
Befreiung aber möglichst umfassend zu erzählen, wirst du gleich
auch Fotos sehen, die eigentlich außerhalb der heutigen
Gedenkstätte entstanden sind. Dieses Foto hier ist eindeutig.
Schauen wir nochmal genauer hin: Das Foto zeigt den
Eingangsbereich zum Häftlingslager kurz nach der Befreiung. Der
Mann auf der Mauer ist General Henning Linden, Brigadegeneral
der 42. Infanteriedivision, genannt “Rainbow Division”, der
US-Armee. Vor ihm steht ein Mann mit weißer Armbinde. Das ist
Victor Maurer, ein Delegierter des Internationalen Komitees des
Roten Kreuzes. Er ist am Tag vor der Befreiung in Dachau
angekommen und soll dafür sorgen, dass das Konzentrationslager
friedlich an die Amerikaner übergeben wird. Links von Victor
Maurer, der große Mann, ist der SS-Untersturmführer Heinrich
Wicker. Er ist 23 Jahre alt und erst seit zwei Tagen
Lagerkommandant, denn die ursprünglichen SS-Leute sind geflohen.
Sie wollen nicht von den Amerikanern gefangen genommen
werden.
Im Hintergrund siehst du ziemlich viele Leute, die aus den
Fenstern und Türen des Jourhauses herausschauen. Die meisten
sind Häftlinge – du bekommst hier hier schon eine Ahnung, wie
voll das Lager ist: Mehr als 32.000 Menschen sind am Tag der
Befreiung im KZ-Dachau eingesperrt. Gebaut wurde das Lager für
6.000.
Als die Amerikaner am KZ-Dachau eintreffen, ist das erste, was
sie sehen, allerdings nicht das Jourhaus.
Lass uns zum nächsten Bild gehen und dann auch den ersten
Augenzeugen hören.
2 Die Toten im Zug von Buchenwald
Das erste, was die US-Soldaten sehen, ist: ein Güterzug voller
Leichen. Der Zug stand nicht genau hier. Sondern etwa einen
Kilometer entfernt. Da war früher das SS-Lager. Dieser Ort ist
heute nicht für Besucher*innen zugänglich.
In diesen Waggons sind Häftlinge aus dem KZ Buchenwald bei
Weimar nach Dachau transportiert worden. Sie waren drei Wochen
ohne ausreichende Verpflegung unterwegs. Von den fast 5000
Häftlingen, die in Buchenwald losgefahren sind, hat die Hälfte
den Transport nicht überlebt. Hunderte von Leichen liegen in den
offenen Waggons.
Diese Toten sind das erste, was die 42. und die 45.
Infanteriedivision der US-Armee auf ihrem Vormarsch zum KZ
Dachau sehen. Die Soldaten, viele unter ihnen sind noch nicht
einmal 20 Jahre alt, sind entsetzt von dem Anblick.
Einer, der die Situation miterlebt, ist 1st Lt. William Cowling
von der 42. Infanteriedivision der US-Armee. Er wird von ein
paar Journalisten begleitet. Er ist auf dem Foto nicht
abgebildet, aber beschreibt die Situation in einem Brief an
seine Eltern:
"Unterwegs erfuhren wir von Zivilisten und zwei
Zeitungsleuten, dass abseits der Hauptstraße das
Konzentrationslager Dachau lag. Diese Zeitungsleute hatten
vor, sich das Lager anzusehen, also beschlossen wir, das auch
zu tun. Wir fuhren mit einer Wache in einem Jeep vor. Wir
waren ein paar hundert Meter voraus, als wir das Lager
erreichten. Das erste, auf was wir stießen, war ein Gleis, das
aus dem Lager führte, mit einer Menge offener Güterwaggons
darauf. Als wir das Gleis überquerten und in die Waggons
zurückschauten, war das der schrecklichste Anblick, den ich
(bis dahin) jemals gesehen hatte. Die Waggons waren mit
Leichen gefüllt. Die meisten von ihnen waren nackt und alle
von ihnen nur Haut und Knochen. Wirklich, ihre Beine und Arme
hatten nur einen Umfang von ein paar Zentimetern und sie
hatten überhaupt kein Gesäß. Viele der Toten hatten
Einschusslöcher am Hinterkopf. Uns wurde schlecht, und so
konnten wir nichts Anderes tun als die Fäuste zu ballen. Ich
konnte nicht mal sprechen
Dann fuhren wir weiter zum Lager, und mein Jeep war immer noch
ein paar hundert Meter voraus. Als wir das Haupttor
erreichten, kamen ein deutscher Offizier und ein Zivilist, der
eine Binde des Internationalen Roten Kreuzes und eine weiße
Flagge trug, heraus. Wir stiegen sofort nacheinander aus und
ich hoffte nur, dass er eine komische Bewegung machen würde,
damit ich den Abzug meines Maschinengewehrs betätigen könnte.
Aber das tat er nicht, und als er uns direkt gegenüberstand,
fragte er nach einem amerikanischen Offizier. Ich sagte ihm,
dass er zu einem spreche und er sagte, dass er das Lager an
mich übergeben wolle."
Gehen wir zum nächsten Bild und schauen, was passiert.
3 Die Amerikaner sind da
Auf dem Foto siehst du den Moment der Übergabe des
Konzentrationslagers Dachau an die US-Armee. Von links nach
rechts siehst du: einen SS-Mann mit hinter dem Rücken
verschränkten Armen. Er verdeckt den Mann dahinter, den
aktuellen Lagerkommandanten SS-Untersturmführer Heinrich Wicker.
Der Mann mit dem hellen Halstuch uns gegenüber ist der belgische
Journalist Paul Lévy, der als Übersetzer die Amerikaner
begleitet. Mit dem Rücken zu uns: Victor Maurer vom
Internationalen Roten Kreuz, er trägt einen Stab, an dem er eine
weiße Fahne befestigt hat. Die ist hier schlecht zu erkennen.
Daneben mit dem Gesicht zu uns: der Brigadegeneral der 42.
Infanteriedivision “Rainbow”: Henning Linden. Die anderen sind
unbekannte US-Soldaten.
Die Übergabe fand nicht genau hier statt.
Es ist Sonntag, 29. April 1945, gegen 17 Uhr.
Der Mann mit der weißen Armbinde, der Schweizer Victor Maurer
vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz ist schon einen Tag
vorher in Dachau angekommen. Er soll die Übergabe des Lagers
vorbereiten. Er beschreibt genau diesen Moment noch am gleichen
Abend in einem Bericht:
"Der Kriegslärm wurde unerträglich. Ich merkte, dass er vor
den Mauern des KZ war und ich entschloss, mich zu folgendem:
ich nahm einen Besenstiel und befestigte an den eine weisse
Serviette. Ich bat den deutschen Offizier mich zu begleiten,
so verliessen wir das Haupttor des K.Z.‚ die Kugeln pfiffen
nur so.
Einige Momente später sah ich eine kleinere motorisierte
amerikanische Abteilung, durch mein Winken mit der weissen
Flagge lenkte ich deren Aufmerksamkeit auf uns. Wir [waren]
bald umstellt von verschiedenen amerikanischen Militär
Auto[s]. Ich stellte mich den Herren vor. Der General bat mich
erst, in der Begleitung des deutschen Offiziers rasch ein paar
Pressefotos zu machen und zwar von einem Eisenbahnzug wo
voller toten Menschen war. Wie ich später erfahren habe, war
dies ein Zug wo von Buchenwald hergekommen sei, alles
Gefangene. Nach meiner Ansicht sind viele getötet worden‚
während andere sehr wahrscheinlich verhungert sind. Ich habe
einen gewissen Major Avery kennen gelernt und habe ihm die
ganzen Pläne, betreffend der Übergabe mitgeteilt, mit der
Bitte er soll sie dem General übermitteln. Nun kamen wir mit
dem Wagen zurück in den Hof des KZ, wo welche Amerikaner
bereits schon drinnen waren. Die Häftlinge, die tausenden, ein
Mob, war außer sich und waren rasend vor Freude."
Während Victor Maurer noch mit dem General spricht, machen sich
schon ein paar Journalisten und US-Soldaten auf zum Eingang. Das
machen wir jetzt auch.
4 Das Tor
Das Eingangstor zum Konzentrationslager. Das Tor trägt die
bekannte Aufschrift: “Arbeit macht frei.” Das Foto ist kurz nach
der Befreiung aufgenommen worden. Durch dieses Tor betreten die
US-Soldaten und zwei Journalist*innen das Lager - nicht ahnend,
was passieren wird. Lassen wir noch einmal Lt. William Cowling
von der 42. Infanteriedivision zu Wort kommen. Er begleitet die
Journalist*innen:
"Die Zeitungsleute sagten, dass sie ins Lager reingehen
würden und ich bekam die Erlaubnis, zusammen mit meiner Wache
mit ihnen mitzugehen, während die anderen beim General
blieben. Wir gingen durch ein Tor und entdeckten einige
Deutsche in einem Turm. Ich brüllte auf Deutsch, dass sie zu
mir kommen sollten, und das taten sie auch. Ich schickte sie
zurück zu den Wachen und demGeneral und stieg auf die
Motorhaube des Jeeps der Zeitungsleute und steuerte auf das
Tor zu.
Ein Mann lag tot direkt vor dem Tor. Eine Kugel durch seinen
Kopf. Einer der Deutschen, die wir gefangen genommen hatten,
zog ihn aus dem Weg und wir stiegen aus und gingen durch das
Tor auf einen großen betonierten Platz, etwa 800 qm, umgeben
von niedrigen schwarzen Baracken, und alles war von
Stacheldraht umgeben. Als wir durch das Tor gingen, war keine
Seele in Sicht. Dann kamen plötzlich Leute (wenn man sie so
nennen konnte) aus allen Richtungen. Es waren dreckige,
verhungerte Skelette und sie schrien, brüllten und weinten.
Sie rannten auf uns zu und griffen nach uns, nach mir und den
Zeitungsleuten, küssten unsere Hände und Füße und alle
versuchten uns zu berühren. Sie schnappten uns und warfen uns
in die Luft, und sie schrien sich dabei die Lungen
raus."
Gehen wir auch durchs Tor.
5 Endlich frei
Auf diesem Foto siehst du, wie einige Häftlinge mit US-Soldaten
gemeinsam feiern. Ein Ausdruck der Freude und Erleichterung.
Einer der Häftlinge, die da auf die Amerikaner zustürmen, ist
der belgische Widerstandskämpfer Arthur Haulot. Er ist ein
Freund von Paul Lévy, dem Belgier, der die Amerikaner als
Übersetzer begleitet. Paul Lévy hast du schon kurz gesehen, der
Mann mit dem weißen Halstuch. Noch ahnen die Freunde nicht, dass
sie sich gleich wiedersehen werden. Der Häftling Arthur Haulot
erlebt den Moment seiner Befreiung und des Wiedersehens so:
"Zwei Soldaten übersteigen das Gitter. Einer fällt mir in die
Arme. Ich küsse ihn, er küsst mich… und ich bemerke, dass er
eine Frau ist. Amerikanische Kriegsberichterstatterin, der
erste amerikanische Staatsbürger, der in das befreite Lager
eindringt. Was dann folgt, ist Wahnsinn. Das gesamte Lager
drängt sich gegen die Gitter. Die auf der anderen Seite
zusammen getriebenen SS-Leute werden öffentlich verhöhnt. Wenn
sie uns in die Hände fielen, würden wir sie zerreißen. Die
Masse brüllt ihre Freude hinaus. Unmöglich, sie zu beruhigen.
Aber welche Überraschung, welche Freude fürmich! In der Gruppe
um den amerikanischen General entdecke ich Paul Lévy! Er kam,
um mich zu suchen."
Was für ein Glück, dass die beiden Freunde sich nach all der
Zeit hier, an diesem Ort, mitten im Krieg wiederfinden. Lassen
wir Paul Lévy auch noch kurz zu Wort kommen:
"In diesem Moment hielt ich es nicht mehr aus. Ich beeilte
mich, ins Camp zu kommen. Maschinengewehrfeuer ratterte
erneut.
Das ist der Augenblick, in dem die Gefangenen die Amerikaner
sehen und durch die Türen ihrer Baracken brechen. Ein riesiger
Lärm ertönt. Durch die Gitter sehe ich Tausende Menschen wie
verrückt loslaufen, sich über den ganzen Appellplatz
ausbreiten. Ich versuche durch das Tor zu kommen. Drinnen:
weinende, schreiende, Beifall klatschende Insassen, schütteln
meine Hände, küssen sie.
Und plötzlich höre ich wie mein Name gerufen wird - von einer
vertrauten Stimme. Arthur Haulot ist dort! Unser lieber
Arthur, in seiner zebragestreiften Häftlingsuniform, trägt ein
rotes Dreieck mit einem schwarzen B für die belgischen,
politischen Gefangen."
Die meisten Häftlinge sind allerdings viel zu schwach, um den
Amerikanern entgegen zu laufen. Schauen wir uns den Zustand des
Lagers zum Zeitpunkt der Befreiung genauer an.
6 Am Ende ihrer Kräfte
Auf diesem Bild siehst du unterernährte und von Krankheit
gezeichnete Häftlinge, die sich gegenseitig stützen. Im
KZ-Jargon werden sie “Muselmänner” genannt. Gemeint sind völlig
verhungerte, teilnahmslose Häftlinge, die dem Tod näher als dem
Leben sind. Einer, der die Befreiung aus Sicht der Kranken
beschreibt, ist Ben Lesser. Er ist auf dem Foto nicht
abgebildet. Ben ist damals 17 Jahre alt - und er hat gemeinsam
mit seinem Cousin Isaac den Todeszug aus Buchenwald knapp
überlebt, den du schon gesehen hast.
"Drei Tage später hatten sich Isaac und ich nicht bewegt und
lagen immer noch auf dem Boden. Wir dachten, dass wir uns die
Geräusche von Jubel, die vom Lagerplatz zu uns hereindrangen,
nur einbildeten. Es klang so, als versuchten Gefangene, die
fast tot waren, in vielen verschiedenen Sprachen “Befreiung,
Befreiung” zu rufen. Diejenigen, die wir am deutlichsten
verstanden, waren die jiddischen Stimmen: „Bafreiung!“ Wir
waren verwirrt und doch neugierig, warum so viele Muselmänner
- so nannten wir die Männer, die fast tot waren - dieses Wort
so ekstatisch riefen. Mein Cousin und ich lehnten uns
aneinander, um Halt zu finden und zwangen uns, irgendwie
aufzustehen. Wir hielten uns aneinander fest und humpelten auf
zittrigen Beinen nach draußen. Wir sahen eine Menge jubelnder
Gefangener, von denen jeder der erste sein wollte, der unsere
Retter zu umarmt. Traurigerweise sahen wir auch viele, die
hinfielen und starben, bevor sie ihre Befreier berühren
konnten.
Die Amerikaner waren durch den Anblick der ausgemergelten,
wandelnden Skelette und der überall herumliegenden,
aufgestapelten Leichen so schockiert und angewidert, dass
viele von ihnen auf die Knie fielen, schluchzten und sich
übergaben.
Isaac und ich konnten kaum stehen und hielten uns aneinander
fest, zu benommen, um uns zu bewegen und zu überwältigt, um
überhaupt zu denken. Wir sahen zwei junge, saubere und gesunde
amerikanische Soldaten, die auf uns zukamen. Wir wussten nicht
einmal, was wir denken oder fühlen sollten. Sie versuchten,
ihr Entsetzen über unseren Anblick mit einem freundlichen
Lächeln zu verbergen."
Wie Ben Lesser sind viele Gefangene gerade in den Baracken als
die Amerikaner ankommen. Gehen wir also zu der rechten Baracke.
7 Mehr tot als lebendig
Hier siehst du die österreichische Ärztin Ella Lingens, die
gerade eine andere Mitgefangene untersucht. Unter den 32.000
befreiten Häftlingen sind knapp 300 Frauen. Die meisten
weiblichen Häftlinge sind nicht in Dachau selbst, sondern in den
Außenlagern des KZ. Ella Lingens ist als Gegnerin des
Nationalsozialismus seit zwei Jahren in Gefangenschaft.
"Wir Frauen erfuhren das alles nur unvollständig und
bruchstückweise. Ich hatte in diesen Tagen wieder sehr viel
Arbeit, denn 250 Frauen, die aus Sachsen in 14 Tagen zu Fuß
nach Dachau marschiert waren, sahen fürchterlich aus und
mussten an den Füßen verbunden werden. Wir hatten keine Zeit,
uns über irgendetwas anderes den Kopf zu zerbrechen.
Um 5 Uhr nachmittags, ich machte einen Fußverband nach dem
anderen, hörte ich Schüsse und lautes, triumphierendes
Geschrei. Mit einem Wiener Genossen, der gerade in der Nähe
war, lief ich zum Appellplatz. Das Tor des Schurhauses (sic)
stand offen und hereinkamen, begrüßt vom unbeschreiblichen
Jubel der Häftlinge, die ersten amerikanischen
Soldaten."
Wir schauen noch etwas weiter entlang der Baracke.
8 Hoffen und Bangen
Auf dem Foto siehst du mehrere Häftlinge, die aus dem Fenster
einer Baracke schauen. Es wurde kurz nach der Befreiung
aufgenommen. Wer sie genau sind, wissen wir nicht.
Am Tag der Befreiung, dem 29. April 1945 bleiben die meisten
Häftlinge in den völlig überfüllten Baracken. Viele sind zu
schwach, viele haben aber auch Angst. Einige Häftlinge haben von
einem Befehl gehört, dass die SS alle Inhaftierten töten soll.
Zudem gibt es seit Tagen keine Verpflegung mehr. Auch dass das
Lager durch die Kriegsgefechte zerstört wird, ist eine
Befürchtung. Der Slowene Anton Gortnar ist auf dem Foto nicht zu
sehen, aber er berichtet davon, wie die Befreiung nach und nach
die Runde macht.
"Der 29. April war ein Sonntag. Gleich in der Früh bemerkten
wir eine weiße Fahne außerhalb des Lagers. Das Lager ergibt
sich! Die Wachposten waren noch immer auf ihren Türmen. Am Tag
hören wir von der Plantage her ab und zu eine Schießerei. Die
Kugeln flogen auch über das Lager. Wir hielten uns in den
Baracken auf und warteten. Um halb sechs hörte ich das
Stampfen laufender Beine auf der Lagerstraße. Ich ging aus der
Baracke hinaus und sah einen Strom von Menschen, der Richtung
Appellplatz lief. Von Mund zu Mund ging das Wort: ‚Amerikaner,
Amerikaner!‘ Ich sah sie, wie sie einer nach dem anderen
entlang des Lagerzauns gingen. Der Appellplatz war im Nu voll
mit Häftlingen. Schreie der Freude und der Begeisterung! Hin
und wieder eine verspätete Garbe aus dem Maschinengewehr in
den Wachtürmen. Aber auch diese Maschinengewehre verstummten
auf ewig. Einige Gefangene durchbrachen den Zaun und zerrissen
die von den Wachtürmen kriechenden Wachposten."
Was mit den SS-Leuten geschieht, schauen wir uns später nochmal
an. Als nächstes werfen wir einen Blick in eine Stube einer
Baracke.
9 Zu wenig Platz für zu viele Menschen
Der Zustand des Lagers ist erschreckend und kaum zu beschreiben.
Darüber hinaus ist es mit über 32.000 Menschen völlig überfüllt
- das Lager ist eigentlich für 6.000 Gefangene ausgelegt. Hier
ein Foto der Fotografin Lee Miller von einer Stube in einer
Baracke. Es wurde am Tag nach der Befreiung aufgenommen, um die
Zustände zu dokumentieren. Du hörst noch einmal Anton Gortnar,
der die Situation in den Baracken beschreibt.
"Unser Lager wurde so voll, dass in jedem Zimmer 300 und mehr
Häftlinge waren. Stockbetten wurden auch in die Wohnstuben
aufgestellt. Es war keine Rede mehr von der „Sauberkeit“, die
in den ersten Jahren der „Stolz“ dieses Lagers war. Alles war
verlaust, es gab Fleckfieberepidemien, Durchfall und andere
Krankheiten. Die Kranken blieben in ihren Betten und starben
dort. Dort verrichteten [sie] auch ihre Notdurft und auf den
sogenannten Invalidenblöcken (Blöcke mit ungerader Zahl von 15
bis 19) stank es fürchterlich. Nicht einmal die Toten wurden
regelmäßig weggebracht. Gefangene, die noch genügend Kraft
hatten, warfen sie durch die Fenster hinaus, die Toten auf den
oberen Betten, die man wegen Entkräftung nicht erreichen
konnte, ließ man gleich dort. Nur im Januar [1945] starben
4.500 Menschen, davon 70% an Fleckfieber. Die Krematorien
konnten solch eine Anzahl von Leichen nicht mehr
bewältigen."
Was Anton Gortnar beschreibt, mag man sich kaum vorstellen.
Allein von Anfang Januar bis zum Tag der Befreiung sind hier
7110 Häftlinge gestorben. Wir schauen jetzt genauer hin.
10 Überall Leichen
Für viele Gefangene kommt die Rettung zu spät. Auf dem Foto
siehst du ausgemergelte Leichen, die zwischen den Baracken
abgelegt wurden. Daneben stehen ehemalige Häftlinge. Seit dem
Winter 1945 gibt es im Lager keinen Brennstoff mehr, um im
Krematorium die Leichen zu verbrennen.
Die Journalistin Marguerite Higgins begleitet als
Kriegsberichterstatterin die 42. Infanteriedivision der
US-Armee. Du hast schon von ihr gehört - sie ist eine der
ersten, die das Konzentrationslager Dachau betritt. Marguerite
Higgins schreibt für die “New York Herald Tribune”. In ihrem
Bericht vom 29. April 1945 schildert sie unter anderem
Situationen wie diese auf dem Foto:
"Die Baracken in Dachau waren angefüllt mit dem Gestank von
Tod und Krankheit. In sechs Baracken lagen Verhungernde und
Sterbende buchstäblich einer auf dem anderen: 1200 Menschen in
Räumen, die für 200 berechnet waren. Die Toten lagen auf
asphaltierten Wegen außerhalb der Baracken und andere wurden
gerade hinausgetragen, während die Reporter durchgingen. An
allen ausgemergelten Leichen waren die Merkmale des
Verhungerns zu sehen. Viele Lebende waren so schwach, dass ihr
Überleben unmöglich schien."
Wir gehen jetzt weiter zum Stacheldraht beim Wachturm.
11 Rettung im letzten Augenblick
Der Moment der Ankunft der Amerikaner: Die jugendlichen
Häftlinge hinter dem Stacheldraht jubeln ihren Befreiern
entgegen. Vermutlich wurde das Foto nicht genau an dieser Stelle
aufgenommen.
Unter den befreiten Häftlingen sind über 1.000 Kinder und
Jugendliche. Steve Ross ist 14 Jahre alt, als er im KZ Dachau
befreit wird. Damals heißt er noch Szmul Rozental. Bei einem
späteren Besuch in der Gedenkstätte Dachau glaubt er sich auf
diesem Foto wiederzuerkennen. Seiner Erinnerung nach ist er von
links der erste Junge mit der gestreiften Häftlingskleidung am
Stacheldraht. Steve Ross erinnert sich an diesen Moment so:
"Ich sah, wie Gefangene zum Haupttor liefen. Ich war sehr
schwach und konnte kaum laufen, aber ich musste zum Tor. Ich
lief ein Stück, aber dann wurde mir schwindlig und ich fiel
hin. Mein Bruder wollte nicht, dass ich ging, aber er folgte
mir. Als ich fiel, half er mir auf und ging mit mir. Überall
lagen hunderte von Leichen. Wir waren gezwungen, auf manche zu
treten, um weiterzukommen.
Auf unserem Weg sahen wir riesige Soldaten, die in ihren Armen
ausgezehrte Opfer trugen. Sie sprachen uns an, aber wir
konnten sie nicht verstehen. Als wir näher kamen, sahen wir
viele Soldaten das Lager betreten. Es herrschte so ein Chaos
und Durcheinander, dass die Soldaten nicht wussten, was sie
als erstes tun sollten.
Sie gaben uns sofort zu essen: Kekse, Konserven, Schokolade.
Sie teilten sogar ihre Zigaretten mit uns. Wir nannten sie
'Armee Gottes'. Ich schaute sie an, sie schauten mich an. Ich
wollte ein Soldat sein, genau wie sie. Als ich so starke
Männer sah, die mein Leben gerettet hatten, war ich so
überwältigt vor Freude und Glück. Wären sie ein paar Tage
später gekommen, hätte ich vielleicht nicht überlebt."
Für das nächste Foto bleiben wir noch hier: auf dem
Todesstreifen zwischen Stacheldraht und Außenmauer.
12 SS-Männer werden erschossen
Auf dem Bild siehst du einen US-Soldaten vor einer Gruppe
erschossener SS-Wachleute. Am Tag der Befreiung liefern sich die
Amerikaner mit den SS-Leuten zum Teil noch Schusswechsel auf dem
KZ-Gelände. Einige werden auch an Ort und Stelle von US-Soldaten
hingerichtet oder vereinzelt von Häftlingen getötet. Das hast du
schon gehört. Die meisten Häftlinge sind gegen diese Racheakte.
Johann Steinbock, ein katholischer Priester, der vier Jahre in
Dachau gefangen war, erlebt das so:
"Wir eilen umher, da sehen wir schon beim Wachturm B
außerhalb Block 18 fünf SS-Männer erschossen liegen. Oben auf
dem Turm ragt auf der Lagerseite noch das Maschinengewehr
heraus, auf der Außenseite weht ein weißes Tuch. Die
zusehenden Häftlinge erzählen, die Männer seien
heruntergekommen, die Amerikaner hätten sie abgegriffen, es
sei wohl etwas gesagt worden, vielleicht eine Verneinung von
Waffen, plötzlich bei einem Griff zuckte der Amerikaner,
zückte seine Maschinenpistole kaum merklich und durch eine
kleine Fingerbewegung lagen die fünf tot auf der Erde.
Wir suchten den Grund der weiteren Schüsse. An der Lagermauer
auf der anderen Seite nächst dem Plantagentor sahen wir acht
SS-Männer erschossen liegen. Sie waren abgeführt worden aus
den Türmen; warum sie an die Wand gestellt wurden, konnte ich
nicht erfahren."
Gehen wir nun zum letzten Bild.
13 Wie soll es weitergehen?
Die Häftlinge auf diesem Foto sind unbekannt. Wir wissen nicht,
wer sie sind. Das Bild ist kurz nach der Befreiung entstanden.
Der Tscheche Heinz J. Herrmann ist 24 Jahre alt und seit 1942 in
KZ-Gefangenschaft. Er kommt erst im Januar 1945 von Auschwitz
nach Dachau. Er ist auf dem Foto nicht abgebildet. Seine
Erinnerung an die Befreiung zeichnet aber die Stimmung gut nach,
die dieses Bild vermittelt:
"So mancher, mich eingeschlossen, verstand gar nicht, was mit
ihm vorging, daß er keine Angst mehr haben mußte, daß er von
einer Minute zur anderen kein gehetztes Tier, sondern ein
freier Mensch geworden war. Ich kann mich an keinen großen
Jubel erinnern, nur wenige hatten die Kraft für stürmische
Begeisterung, aber jeder gab auf seine Weise seiner Freude
Ausdruck. Leute knieten nieder und beteten, weinten, lachten,
stürzten sich auf die Befreier und umarmten sie. Andere
suchten nach ihren Freunden, um mit ihnen den großen
Augenblick zu genießen, und viele wußten nicht, was sie mit
der neuen Freiheit anfangen sollten. Gab es Angehörige, zu
denen sie zurückkehren konnten, gab es eine Heimat, die bereit
war, sie aufzunehmen, gab es eine Existenz für sie nach all
den Jahren, während derer für sie "gesorgt" worden war? Sehr,
sehr viele der Befreiten lagen irgendwo apathisch, entkräftet
und willenlos herum, und viele von ihnen überlebten ihre
Befreiung nur um Stunden und Tage. Ihnen war nicht mehr zu
helfen, sie wußten gar nicht, daß sie befreit waren"
Der virtuelle Rundung zum 75. Jahrestag der Befreiung ist jetzt
vorbei. Wenn Du noch mehr erfahren willst, dann hör Dir auch
unseren Podcast dazu an: „Die Befreiung - Die letzten Stunden in
den Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau“. Darin kommen
einige von den Menschen, die Du gerade beim Rundgang
kennengelernt hast, ausführlicher zu Wort.
Die Befreiung – Podcast
Weiter eintauchen im Podcast: Die Geschichten einzelner Häftlinge und Befreier aus dem Rundgang werden hier vertieft und um Schicksale aus dem KZ Flossenbürg ergänzt.
Zum Podcast